- Vereinigte Staaten von Amerika: 1865 bis 1917
- Vereinigte Staaten von Amerika: 1865 bis 1917Die Erschließung des WestensNach dem Bürgerkrieg konzentrierten die Amerikaner ihre Energien auf die Erschließung der Westgebiete und die Industrialisierung. Im »vergoldeten Zeitalter« (Gilded Age) vollzog sich ein rasantes, von Krisen nur kurzfristig gebremstes wirtschaftliches Wachstum; der damit verbundene soziale Wandel rief aber auch Gegenkräfte hervor, die das gesellschaftliche Leben unruhig und gelegentlich sogar dramatisch gestalteten.Von zentraler Bedeutung war die verkehrsmäßige Erschließung des amerikanischen Westens. Zum Symbol des Eisenbahnzeitalters wurde die transkontinentale Eisenbahnlinie, die Union and Central Pacific Railroad, von Omaha in Nebraska nach Sacramento in Kalifornien, deren Vollendung im Mai 1869 Ost- und Westküste verband. Die Bundesregierung gewährte den beiden beteiligten Bahngesellschaften, der Union Pacific Company und der Central Pacific Company, 20 Millionen Dollar Kredite als Sicherheit für die ausgegebenen Aktien und übertrug ihnen Besitzrechte an Bundesland entlang des Schienenwegs, die sie mit Gewinn an Siedlungsgesellschaften verkauften. Für die Union Pacific arbeiteten vorwiegend Einwanderer aus Europa; die Central Pacific warb hauptsächlich Chinesen an, die als besonders genügsam und ausdauernd galten. Damit begann die asiatische Immigration, die bald zu diskriminierenden Maßnahmen gegen die »gelben Kulis« führte. Ein Gesetz von 1882, der Chinese Exclusion Act, schloss die Chinesen als erste ethnische Gruppe von der Einwanderung aus.Hauptknotenpunkt des Eisenbahnverkehrs wurde Chicago, das, nach New York, zur zweitgrößten Stadt der USA aufstieg. Zwischen 1870 und 1900 wuchs das Schienennetz von 53 000 auf 200 000 Meilen, parallel dazu wurden Telegrafenleitungen gelegt. Diese Transport- und Kommunikationsrevolution zeitigte verschiedene Folgen: Eisen- und Stahlindustrie, Kohleförderung und Maschinenbau an der Ostküste und im Gebiet der Großen Seen verzeichneten einen Aufschwung, und man erhielt Zugang zu den Bodenschätzen und zum Holzreichtum des Westens. Die Eisenbahntechnik wurde standardisiert und eine regionale Arbeitsteilung als Voraussetzung für den Übergang zur Massenproduktion etabliert; außerdem verringerten sich Frachtkosten und Reisezeiten. Die Einwanderung nahm zu und der Mittlere Westen und die Great Plains wurden beschleunigt besiedelt.Mit dem steigenden Fleischbedarf in den Städten expandierte die Viehzucht auf den riesigen Weidegebieten des Westens und Südwestens. Über Viehwege, die cattle trails, gelangten die Rinderherden zu Bahnstationen wie Abilene und Dogde City in Kansas. Von dort aus rollten die Transportzüge zu den Schlachthöfen nach Saint Louis und Chicago. Mit der Westwanderung der Farmer löste die Landwirtschaft die Viehzucht als wichtigsten Agrarzweig ab. Kommerzialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft steigerten die Abhängigkeit der Farmer von den Eisenbahngesellschaften und den Märkten der Ostküste: Ein Überangebot von Agrarprodukten ließ die Preise rasch sinken, Depressionen im industriellen Sektor verminderten die Nachfrage nach Konsumgütern; daneben bildeten Naturkatastrophen wie Dürreperioden, Insektenplagen und Wirbelstürme eine ständige Existenzbedrohung. Aufs Ganze gesehen nahm die Agrarproduktion jedoch stark zu — eine Entwicklung, die dem Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten zugute kam.Die Verdrängung der UreinwohnerDer Eisenbahnbau und die Landnahme westlich des Mississippi besiegelten den Untergang der letzten Indianerkulturen. Die Existenzgrundlage der nomadischen Prärie-Indianer ging schon in den 1870er-Jahren verloren, als die Bisonherden dem Nahrungsmittelbedarf der Bautrupps und den steigenden Preisen für Bisonhäute zum Opfer fielen. In Washington gedachte man das »Indianerproblem« durch die Einrichtung weiterer Reservationen zu lösen. Die Indianer wichen der weißen Übermacht jedoch nicht kampflos, sondern leisteten teilweise erbitterten Widerstand. Einen Höhepunkt bildete der Konflikt um die Blackhills im heutigen South Dakota. Hier errangen die verbündeten Sioux- und Cheyennestämme unter den Häuptlingen Sitting Bull und Crazy Horse ihren letzten großen Sieg, als sie am 25. Juni 1876 am Little Bighorn River die über 250 Mann starke Kavallerieeinheit von Colonel George A. Custer vernichteten. Auf Dauer besaßen die Indianer jedoch keine Chance gegen die technisch überlegenen regulären Truppen. Crazy Horse kapitulierte 1877 und wurde — angeblich bei einem Fluchtversuch — erstochen; Sitting Bull wich nach Kanada aus, stellte sich aber 1881 den amerikanischen Behörden und trat später noch in Wildwestshows auf. Die überlebenden Sioux wurden in Reservationen umgesiedelt, die Cheyenne nach Oklahoma deportiert. Im Südwesten zogen sich die Kämpfe gegen Navajo und Apachen bis 1886 hin. Das traurige Ende dieser Epoche markierten die Ereignisse am Wounded Knee Creek in South Dakota, wo Soldaten im Dezember 1890 über 300 Sioux, meist Frauen und Kinder, massakrierten. Danach erlosch die Gegenwehr, und in den Reservationen breiteten sich Resignation und Apathie aus.Das Ziel der Indianerpolitik blieb die Assimilation, das Aufgehen der Ureinwohner in der weißen Gesellschaft. Seit den 1880er-Jahren wuchs die Kritik an den Zuständen in den Reservationen und an der Korruption der für Indianerfragen zuständigen Behörde, des Bureau of Indian Affairs. Auf Drängen von Reformern verabschiedete der Kongress 1887 ein Gesetz, das jeder indianischen Familie Farm- und Weideland aus der Reservationsfläche übereignete (Dawes Severalty Act). Ein großer Teil des Grund und Bodens ging jedoch an Spekulanten und Betrüger verloren. Im Ergebnis wurden die Reservationen erheblich verkleinert, und die Verelendung der indianischen Bevölkerung schritt voran. Bis zur Jahrhundertwende nahm die Krise existenzbedrohende Ausmaße an: Der Zensus von 1900 verzeichnete nicht einmal mehr 250 000 Indianer. Die Ureinwohner hatten ihre kulturelle Identität weitgehend verloren, und ihre physische Existenz hing von den Zuwendungen der Bundesregierung und den Spenden wohltätiger Organisationen ab.Der Aufstieg zur führenden IndustriemachtEine der Triebfedern der Industrialisierung war das starke Bevölkerungswachstum, hervorgerufen durch eine hohe Geburtenrate in Verbindung mit der Masseneinwanderung. Zwischen 1870 und 1900 schnellte die Einwohnerzahl der USA von 40 auf 76 Millionen Einwohner empor, und 1915 überschritt sie die Grenze von 100 Millionen. Knapp ein Drittel des Zuwachses ging auf das Konto der Immigration, wobei Süd- und Osteuropäer zunehmend überwogen. Der Zustrom von Italienern, Polen, Russen und Juden weckte allerdings erneut Ängste vor einer »Überfremdung«. Der Kongress schloss bestimmte Gruppen — wie Geisteskranke und Vorbestrafte, völlig Mittellose oder Träger ansteckender Krankheiten — von der Einreise aus. 1892 richtete die Bundesregierung auf Ellis Island vor Manhattan eine Durchgangsstation ein, die fast alle Einwanderungswilligen aus Europa passieren mussten.Zyklisch auftretende Wirtschaftskrisen verursachten enorme soziale Härten, aber sie konnten den Wachstumstrend stets nur kurzfristig bremsen. Zwischen 1870 und 1900 stieg die Zahl der Arbeitskräfte in der Industrie von 6 auf über 18 Millionen an; 1910 zählte man 37,5 Millionen Beschäftigte, von denen mehr als zwei Drittel — 25,7 Millionen — im industriellen Sektor arbeiteten. Der Wert der produzierten Güter stieg von 3 Milliarden Dollar 1870 auf über 13 Milliarden 1900; das Bruttosozialprodukt verdreifachte sich zwischen 1869 und 1896; das Nationalvermögen wuchs von 1860 bis 1900 um 550 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen von 1860 bis 1890 um 150 Prozent, das Nettoeinkommen der Industriearbeiter im selben Zeitraum um 50 Prozent; der Wert aller Exporte kletterte von 234 Millionen Dollar 1865 auf 2,5 Milliarden 1900, wobei ab 1896 regelmäßig Exportüberschüsse erzielt wurden. London war zwar immer noch das Handels- und Finanzzentrum der Welt; gemessen an der Industrieproduktion hatten die USA aber bereits Großbritannien und das Deutsche Reich hinter sich gelassen.Das hohe Lohnniveau in den USA wirkte als Anreiz, Arbeitskräfte einzusparen. Um wissenschaftliche Effizienz bemüht, zerlegte der Ingenieur Frederick W. Taylor Arbeitsvorgänge in einzelne Bewegungen und maß sie mit der Stoppuhr. Dieser »Taylorismus« schuf die Grundlage für die Fließband- und Akkordarbeit. Der Rationalisierungsdruck führte dazu, dass Erfindungen schnell in die Praxis umgesetzt wurden. Die herrschende öffentliche Meinung wollte das wirtschaftliche Wachstum; dieser charakteristische Fortschrittsoptimismus fand Rückhalt in Evolutionstheorien, wie sie Charles Robert Darwin und Herbert Spencer vertraten. William G. Sumner, Professor an der Yale University, propagierte sozialdarwinistische Ideen, nach denen menschliche Gesellschaften einem naturgesetzlichen Fortschrittsprozess unterliegen, den der Staat beschleunigen könne, indem er die starken, zur Machtausübung und zur Übernahme von Verantwortung befähigten Individuen gewähren ließ. In Verbindung mit den traditionellen Vorstellungen von individueller Freiheit und begrenzter Regierungsmacht trug diese Pseudophilosophie dazu bei, dass sich in den USA ein weitgehend ungebremster Kapitalismus durchsetzte. Die Rechtsprechung förderte diese Entwicklung, indem sie dem Schutz des privaten Eigentums höchste Priorität einräumte und die Befugnisse der Bundesregierung und der Einzelstaaten, in wirtschaftliche Prozesse einzugreifen, beschränkte.Unter diesen Voraussetzungen entfaltete sich eine Wirtschaftsstruktur, in der große Konzerne die Regeln des Wettbewerbs diktierten. Mithilfe von Kartellen, Trusts und Holdings brachten einige Unternehmer wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und John P. Morgan ganze Wirtschaftszweige unter ihre Kontrolle. Um die Jahrhundertwende gab es 300 Konzerne mit jeweils über 10 Millionen Dollar Eigenkapital. Einen neuen Schub bewirkte der industrielle Einsatz von Elektrizität und Erdöl: In der Elektrobranche legten die Erfindungen von George Westinghouse, Thomas A. Edison und Alexander G. Bell das Fundament für mächtige Konzerne; das »schwarze Gold« wurde zum Grundstoff der chemischen Industrie und zum Ausgangsprodukt von Benzin. Auf die wachsende Kritik der Öffentlichkeit am ökonomischen Konzentrationsprozess reagierte der Kongress 1887 mit der Einsetzung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde, der Interstate Commerce Commission. 1890 folgte das erste Antitrustgesetz, der Sherman Antitrust Act, dessen Bestimmungen aber seltener gegen Konzerne als gegen Gewerkschaften angewendet wurden, da die Gerichte deren Streiks als »Verschwörungen« gegen die Wirtschaftsfreiheit werteten.Parteipolitik und soziale Konflikte im vergoldeten ZeitalterDas Gilded Age zeichnete besonders der intensive politische Wettbewerb auf allen Ebenen aus. Die meisten Bürger identifizierten sich mit einer der beiden großen Parteien, und die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag bei fast 80 Prozent — ein Politisierungsgrad, der seitdem nicht mehr erreicht wurde. Wichtiger als die locker organisierten nationalen Parteien waren die örtlichen Verbände — party machines genannt — und ihre »Bosse«, die Politik zum Beruf machten. Unterstützung im Wahlkampf honorierten sie mit der Vergabe von Posten, öffentlichen Aufträgen und Geschäftslizenzen. Von ihrem Wohlwollen hing es ab, ob illegale Einrichtungen wie Wettbüros und Bordelle geduldet wurden oder nicht. So entstanden Netzwerke gegenseitiger Abhängigkeiten und regelrechte Patronagesysteme. Auf der lokalen Ebene vermittelten diese »Parteimaschinen« zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen, ethnischen und religiösen Interessengruppen; in Washington sorgten ihre Repräsentanten als Senatoren oder Abgeordnete dafür, dass die heimatlichen Anliegen Berücksichtigung fanden.Trotz gelegentlicher Herausforderungen blieb das Zweiparteiensystem bis in die 1890er-Jahre hinein stabil. Die Republikaner standen dem Bigbusiness näher als die Demokraten, doch sie galten auch weiterhin als Partei der »moralischen Reformen«, die christliche Grundsätze und die Werte der weißen angelsächsischen Protestanten verteidigte. Die Demokraten stützten sich auf den Süden und warben um die Gunst der überwiegend katholischen Neueinwanderer in den Städten. Das politische Kräfteverhältnis war von 1876 bis 1896 sehr ausgewogen: Mit Ausnahme der Jahre 1884 und 1892, in denen der Demokrat Grover Cleveland die Wahlen gewann, stellten die Republikaner den Präsidenten, während die Demokraten das Repräsentantenhaus in sieben von zehn Wahlperioden beherrschten. Die Präsidenten, die während der Zeit des Gilded Age amtierten, standen im Schatten eines selbstbewussten Kongresses. Der britische Politiker, Diplomat und Historiker James Bryce beschrieb sie 1888 in seinem Werk »Amerika als Staat und Gesellschaft« als Geschöpfe ihrer Parteien und Gefangene der mechanischen Regierungsabläufe. Sie entwickelten keine langfristigen politischen Konzepte und nahmen kaum Einfluss auf die Gesetzgebung. Erst nach der Jahrhundertwende nutzten energische Persönlichkeiten wie Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson den Handlungsspielraum des Präsidentenamts wieder voll aus.Die Lage der Afroamerikaner in den SüdstaatenDie Rassenfrage gehörte zu den Problemen, die mit Rücksicht auf den inneren Frieden aus der Bundespolitik ausgeklammert wurden. 1890 lebte die weit überwiegende Zahl der fast 9 Millionen Schwarzen nach wie vor im Süden, und hier verschlechterte sich ihre Situation rapide. Die ökonomische Knebelung der Klein- und Teilpächter wurde durch eine politische Entmündigung und eine strikte Rassentrennung ergänzt. Als Mittel bedienten sich die Südstaaten vor allem einer speziellen Wahlsteuer (poll tax) sowie eines Schreib- und Lesetests für Wähler (literacy test), der gezielt gegen Schwarze eingesetzt wurde. Parallel dazu bauten die Parlamente die Rassenschranken durch eine Flut von Gesetzen, die Jim Crow Laws, zum System der Segregation aus. Das Oberste Gericht legalisierte diese Praxis 1896 durch das Urteil im Fall Plessy gegen Ferguson. Danach war die Rassentrennung rechtmäßig, wenn die Behörden Schwarzen und Weißen »gleichwertige« Einrichtungen zur Verfügung stellten. Diese separate but equal doctrine bezog sich zunächst nur auf das öffentliche Verkehrswesen, diente bald aber generell zur Rechtfertigung der Rassendiskriminierung. Die Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung gründete in dem tief verwurzelten Rassismus, der keineswegs auf den Süden beschränkt war. Auch im Norden führten viele Staaten Wahlrechtsbeschränkungen für Schwarze ein und verboten die Mischehe. Gleichzeitig betrieb man eine Romantisierung des »alten Südens«, die in der Verharmlosung der Sklaverei durch Literaten und Historiker gipfelte.Gewerkschaften und FrauenbewegungOhne hinreichenden sozialen und rechtlichen Schutz sahen sich die amerikanischen Arbeiter im Gilded Age der Willkür der Unternehmer ausgeliefert und liefen Gefahr, ihr Selbstwertgefühl zu verlieren. Durch die Disziplinierung in den Fabriken, durch Massenproduktion und Akkordarbeit drohten sie zu austauschbaren Ersatzteilen in einem industriellen Räderwerk zu werden. In dem von Individualismus und Wettbewerb gekennzeichneten Klima fiel der Aufbau organisierter Interessenvertretungen sehr schwer. Erste Erfolge verzeichneten die Knights of Labor, die 1879 aus geheimbundartigen lokalen Zellen hervorgingen und wenige Jahre später 700000 Mitglieder in 15000 Ortsvereinen zählten. Ihre wichtigsten Forderungen lauteten: Verbot der Kinderarbeit, gleicher Lohn für Männer und Frauen, Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften, Einführung des Achtstundentags und Drosselung der Einwanderung.Einen schweren Rückschlag für die Gewerkschaftsbewegung bedeutete der Bombenanschlag auf dem Haymarket in Chicago, dem am 4. Mai 1886 sieben Polizisten zum Opfer fielen. Obwohl die Urheberschaft unklar blieb, nutzten die Behörden die Gelegenheit, um gegen die gesamte organisierte Arbeiterschaft vorzugehen. Als sich die Führung der Knights of Labor von Gewaltaktionen und Streiks distanzierte, wandten sich die meisten Mitglieder enttäuscht ab. Ihr Erbe trat die im selben Jahr gegründete American Federation of Labor (AFL) an. Dieser Zusammenschluss von Facharbeiterverbänden verfolgte einen pragmatischen Kurs, der darauf zielte, die Arbeitsbedingungen und die materielle Lage der Arbeiter schrittweise zu verbessern. Wichtigste Waffe war der Streik, der aber nur in einem begrenzten, »unpolitischen« Rahmen eingesetzt werden sollte. Einigen Erfolgen standen schwere Niederlagen gegenüber. So scheiterten 1892 der Streik der Stahlarbeiter gegen den Carnegie-Konzern und 1894 der Lohnkampf der Chicagoer Arbeiter gegen George M. Pullman, den Besitzer der größten Waggonfabrik. Im Ernstfall musste die AFL nicht nur mit der wachsenden Macht der Konzerne rechnen, sondern hatte auch die Bundesregierung und die öffentliche Meinung gegen sich.Es erwies sich, dass die amerikanische Arbeiterschaft ethnisch und interessenmäßig zu differenziert und geographisch zu mobil war, um einen einheitlichen Willen kraftvoll durchsetzen zu können. Immigration, Westwanderung und individuelles Erfolgsstreben hielten die Gesellschaft in ständigem Fluss und ließen ein Bewusstsein permanenter Klassengegensätze nicht aufkommen. Im Vergleich zu anderen Industrieländern blieb der Organisationsgrad der amerikanischen Arbeiter gering: 1900 gehörten von 30 Millionen Beschäftigten nur 1 Million einer Gewerkschaft an. Große Teile der Arbeiterschaft, wie die Ungelernten, die Nichtweißen und die Frauen wurden von der AFL sogar bewusst vernachlässigt. Auf ihre Weise nahmen die Gewerkschaften damit an einer übergreifenden Entwicklung teil, die zur Organisation von Interessengruppen in einer pluralistischen Gesellschaft hinführte.Die Vernachlässigung des sozialen Sektors durch die Politiker schuf ein großes Betätigungsfeld für reformerische Frauen. Die 1848 ins Leben gerufene Frauenbewegung hatte sich nach dem Bürgerkrieg an der Wahlrechtsfrage gespalten: Ein aktivistischer Flügel wollte das Frauenwahlrecht durch Demonstrationen erkämpfen, der gemäßigtere steuerte das Ziel durch eine Zusammenarbeit mit der Republikanischen Partei an. 1890 entstand zwar ein neuer Dachverband, die National American Woman Suffrage Association, aber am Ende des Jahrhunderts konnten Frauen weiterhin nur in einigen westlichen Staaten wählen. Größere Erfolge erzielte die Women's Christian Temperance Union, die aus spontanen Aktionen von Frauen gegen Bars und Saloons hervorgegangen war und 1890 schon 150000 Mitglieder zählte. Unter der Führung von Frances Willard wandte sie sich den Problemen des Sozial- und Gesundheitswesens, der Bildung und Erziehung und des internationalen Friedens zu. Willard forderte auch das Wahlrecht für Frauen, allerdings nicht als »natürliches Recht«, sondern als Voraussetzung dafür, dass die Frauen ihrer spezifischen Verantwortung in der Industriegesellschaft gerecht werden konnten. Aus dem sozialen Engagement erwuchs ein Anspruch der Frauen auf Mitwirkung bei der Lösung gesellschaftlich relevanter Fragen, der die amerikanische politische Kultur langfristig prägen sollte.Die populistische Rebellion und ihr Scheitern 1896Ein weltweiter Rückgang der Rohstoffpreise, der eine Deflationsspirale in Gang setzte, führte in die Krise der 1890er-Jahre. Angesichts wachsender Geldknappheit wurden Forderungen laut, die USA sollten sich vom Goldstandard lösen und Silber als Währungsreserve anerkennen. Bei den Demokraten stieß dieses Verlangen auf größeres Verständnis als bei den Republikanern, die den Preisrückgang durch Überproduktion verursacht sahen. Der Streit zwischen Gold- und Silberbefürwortern wurde zum beherrschenden Wahlkampfthema 1896.Angesichts der herrschenden Agrarkrise hatten sich die Farmer seit den 1880er-Jahren zu eigenen Interessenverbänden (Farmers'Alliances) zusammengeschlossen, die im Südwesten und Mittleren Westen der USA über fünf Millionen Mitglieder organisieren konnten. Im Namen der »wirklichen Produzenten« machten sie, die Hauptträger der populistischen Protestbewegung, Front gegen die beiden großen Parteien und die Kapitalisten der Wall Street. 1892 gründeten die Farmer mit Vertretern radikaler Arbeiterorganisationen und anderen Reformgruppierungen die People's Party, die in ihrem Parteiprogramm die Verstaatlichung der Eisenbahnen, ein auf Gold und Silber basierendes Währungssystem, staatliche Hilfen für die Landwirtschaft, eine progressive Einkommensteuer, die Direktwahl der Senatoren sowie eine Beschränkung der Einwanderung und kürzere Arbeitszeiten in der Industrie forderte. Als die Demokraten im Wahlkampf 1896 mit der Parole free silver die Forderung nach uneingeschränkter Silberprägung übernahmen, entschloss sich eine Mehrheit der People's Party zur Unterstützung des demokratischen Kandidaten William J. Bryan. Sein Gegner, William McKinley, ein Senator aus Ohio, genoss das Vertrauen der Wirtschaft. Die Republikaner begegneten dem »Silberkreuzzug« der Demokraten und Populisten mit professioneller Organisation und einer gut gefüllten Wahlkampfkasse. Angesichts der politischen Polarisierung sahen ängstliche Gemüter Unruhen oder sogar eine Revolution voraus. Tatsächlich blieb aber alles ruhig, als sich McKinley im November klarer als erwartet gegen Bryan durchsetzte. Er hatte die große Mehrheit der Industriearbeiter auf seine Seite ziehen können, die inflationäre Maßnahmen ablehnten und niedrige Lebensmittelpreise wünschten. Im Weißen Haus profitierte McKinley dann von einer allgemein günstigen Entwicklung: Der weltweite Preisrückgang wurde gestoppt, die Nachfrage nach Agrarprodukten und Industriegütern nahm wieder zu, und die Währungsproblematik erledigte sich durch große Goldfunde in Alaska fast von selbst.Attraktivität gesellschaftlicher ReformenDie Populisten waren an ihrer ambivalenten Haltung zur Industriegesellschaft gescheitert, die sie teils mit religiöser Inbrunst ablehnten, teils auf pragmatische Weise reformieren wollten. Der Niedergang der People's Party bekräftigte das Zweiparteiensystem, aber die Fronten hatten sich verschoben: Während die Republikaner an einer Koalition von Bigbusiness und Arbeit schmiedeten, wurde die Demokratische Partei zum Sammelbecken von Reformern, die eine an moralischen Werten ausgerichtete Politik befürworteten. In beiden Parteien gewannen »progressive« Kräfte an Boden, die ein Engagement des Staats beim Kampf gegen die unerwünschten Begleiterscheinungen von Industrialisierung und Urbanisierung forderten. Der reformerische Impuls speiste sich nicht mehr allein aus christlichen Ideen, sondern zunehmend auch aus der Überzeugung, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt gezielt zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse eingesetzt werden müsse.Mit Blick auf den Zensusbericht von 1890, der das Ende der frontier proklamiert hatte, behauptete der Historiker Frederick Jackson Turner 1893, der amerikanische Westen sei weit mehr als nur ein »Sicherheitsventil« für soziale Konflikte gewesen. Die Frontier erschien ihm als Inbegriff all dessen, was die USA von Europa unterschied und ihre nationale Identität ausmachte. An der Siedlungsgrenze, an der sich Natur und Zivilisation begegneten, seien die wahre Demokratie und der »amerikanische Charakter« entstanden. Damit bekräftigte Turner den Glauben an die Einzigartigkeit der USA und schuf einen Frontiermythos, der bis in die Gegenwart weiterwirkt. Als »neue Grenze« schwebte ihm nicht die koloniale Expansion vor, sondern ganz im Sinne der Reformbewegung eine innere Erneuerung der amerikanischen Gesellschaft aus dem Geiste der republikanischen Tradition.Prof. Dr. Jürgen HeidekingWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Vereinigte Staaten von Amerika: Außenpolitik im Zeichen des ImperialismusGrundlegende Informationen finden Sie unter:Vereinigte Staaten von Amerika: Bürgerkrieg und ReconstructionFlexner, Eleanor / Fitzpatrick, Ellen: Century of struggle. The woman's rights movement in the United States. Neuausgabe Cambridge, Mass., 1996.Wiebe, Robert H.: The search for order. 1877-1920. Neudruck New York 1995.
Universal-Lexikon. 2012.